vielen Dank für deinen offenen Brief. Glaub mir, du bist nicht die einzige Führungskraft, die vom alljährlichen Kickoff-Event ihres Unternehmens enttäuscht ist. Viele Führungskräfte und auch Mitarbeiter kennen dein Problem:
Ich kann verstehen, dass dich das frustriert – vor allem, weil eure Konzernspitze immens viel Geld und Zeit in den Kickoff gesteckt hat. Den Ansatz eurer Führungsriege, etwas bewirken zu wollen, finde ich auch wirklich gut. Ich möchte dich sogar darin bestärken, deine Mitarbeiter zu motivieren und anzuspornen. Die Frage ist nur: Was tun, wenn solche Rituale wie Kickoff-Events nicht fruchten?
Was du mir beschrieben hast, beobachte ich in vielen Unternehmen: Die Mitarbeiter verlassen beschwingt und voller Energie oder enttäuscht die Kickoff-Veranstaltung – und hinterfragen bereits auf dem Gang, was sie denn nun aus den gewonnenen Informationen machen sollen und was das mit ihrem täglichen Erleben zu tun hat. Das ist ja auch nicht verwunderlich, denn was sie erlebt haben, kommt einem Musicalbesuch verflucht nahe: tolle Stimmung, super Programm, ausgeklügelte Show – und anschließend stolpert die versammelte Mannschaft zurück in die Realität.
Denn die Verbindung zum Alltag fehlt. Du siehst, Ralf, reine Rituale – auch wenn sie noch so toll und ausgeklügelt sind – werden deine Mitarbeiter nicht für die Ausrichtung deines Unternehmens gewinnen oder ihnen bei ihren täglichen Fragen, Problemen und der Umsetzung ihrer Ideen helfen. Die beeindruckende Roadshow und die pompöse Powerpoint-Präsentation sehen vielleicht fantastisch aus, doch ihnen ist der Sinn abhanden gekommen und sie spiegeln häufig nicht die Anliegen, Fragen oder den Alltag der Mitarbeiter wider. Was deine Mitarbeiter brauchen, ist die Verbindung zu ihrer Realität und einer möglichen Zukunft. Weil Kickoff-Veranstaltungen, Jour Fixes, regelmäßige Meetings & Co. zu reinen Ritualen verkommen, wenn sie ohne Verständnis und ohne handlungsstiftenden Hintergrund abgespult werden.
Wahrscheinlich wunderst du dich jetzt, warum solche Rituale dann überhaupt so fürchterlich beliebt sind in der Businesswelt. Kickoffs macht doch jedes ordentliche Unternehmen! Nun, ich habe eine Vermutung:
Sie stillen vor allem menschliche Grundbedürfnisse, zum Beispiel den Wunsch nach Sicherheit. Spätestens wenn „Yes we can“ von allen Bannern leuchtet und „Wir schaffen das“ durchs Mikrofon in den Saal hallt, können alle Beteiligten sich entspannt zurücklehnen: Glück gehabt, wir verfolgen offensichtlich einen Plan, wir sind sicher – es geht weiter.
Wunderbar ergänzend kommt hinzu, dass Rituale alle zusammenbringen. Jeder war dabei, alle haben sich ausgetauscht … hach, wie schön, dazuzugehören! Womit bereits das nächste Grundbedürfnis jedes Menschen befriedigt wäre: Zugehörigkeit zu erleben.
Und zum Schluss der Zuckerguss: Rituale bedienen das Bedürfnis nach Entwicklung. Beim Kickoff dreht sich alles um „höher, schneller, weiter“ – also wenn das nicht nach Entwicklung und Voranschreiten klingt!
Weil Rituale diese Bedürfnisse befriedigen, sind sie auf einer sozialen Ebene tatsächlich von großer Bedeutung und auch unbedingt zu würdigen. Was mir dabei fehlt, ist ihre inhaltliche Bedeutung. Denn diese Form der Rituale stillt Bedürfnisse nur vermeintlich. Oder glaubst du, dass ein Unternehmen tatsächlich sicherer in die Zukunft voranschreitet, nur weil euer Konzernleiter beim Kickoff seine „Alles-wird-gut“-Rede schwingt?
Deswegen empfehle ich dir – und jedem deiner Mitarbeiter – einmal ein bisschen unbequem und anregend zu sein. Steh beim nächsten Meeting auf und frage die Runde: „Warum sitzen wir hier eigentlich?“ Seid ihr zusammengekommen, um echte Meinungen und Ideen auszutauschen oder doch nur, weil der Termin eben im Kalender stand? Dazu gehört eine mutige und förderliche Haltung. Es geht nicht darum anzuklagen, sondern darum euch weiterzuentwickeln: Was hilft euch hier in dieser Runde wirklich?
Eure Rituale im Unternehmen zu hinterfragen, eröffnet den Raum für einen ehrlichen Austausch. Mit dem unverstellten Blick erkennt ihr, welche Rituale ihr tagtäglich und oft unbewusst durchführt. Und welche ihr vielleicht besser über Bord werft, weil sie veraltet sind oder euch inhaltlich und methodisch nicht mehr weiterbringen.
Hier lohnt es sich übrigens für jeden Einzelnen, auch im Kleinen hinzuschauen: Welche Rituale hat beispielsweise dein Bereich etabliert, deine Abteilung, dein Team?
Denn du kannst natürlich weiter als „Zuschauer“ an jedem Ritual teilnehmen und dich im Anschluss über den verpufften Effekt ärgern. Oder du wirst selbst aktiv: Lade deine Mitarbeiter ein, von der Zuschauerrolle in die des Mitspielers zu schlüpfen. Lege kein Musical vor – gestaltet gemeinsam eines! Rege Diskussionen an und gesteh ruhig auch mal ein: „Leute, ich weiß auch nicht, wie es weitergeht.“ Diese Disruption ist wertvoll, wenn dadurch alte Rituale hinterfragt und überdacht werden. Damit könnt ihr auch einen echten gemeinsamen Raum schaffen: Vielleicht hat und findet einer alleine die Lösung nicht, also steckt die Köpfe zusammen und sucht im Team!
Das alles ist nur möglich, wenn Andersdenkende ihre Meinung ohne Angst äußern dürfen. Wenn sie dadurch nicht ihr Gefühl von Zugehörigkeit oder Sicherheit verlieren. Achte deshalb bitte darauf, auch scheinbar skurrile Meinungen über eure Rituale nicht zu verurteilen. Wie wäre es, wenn du stattdessen einmal die opportunen Ja-Sager und Mitläufer genauer in den Blick nimmst? Die Menschen, die gerne zustimmen, weil es für sie bequemer ist, weil sie sich dadurch Vorteile erhoffen. Die allerdings sich selbst, ihre wirkliche Perspektive nicht einbringen und damit oft die Arbeit an entscheidenden Problemen, Veränderungen und Ideen verhindern.
So wirst du teilweise in zwei Welten unterwegs sein. Es wird Situationen geben, da bist du in der Zuschauerrolle und hast auch keinen Einfluss darauf, das zu ändern, weil die Situation einfach zu mächtig ist. Und gleichzeitig hast du immer die Möglichkeit, für dich als Führungskraft mit deinen Mitarbeitern anders zu handeln.
Ich wünsche dir und deinem Team alles Gute, lieber Ralf.