der Widerspruch, den du in deinem Brief aufwirfst, irritiert vielleicht, ist aber auch bezeichnend für unsere Zeit. Aktives Zuhören, das ist dein Thema. Du bemerkst, dass zwar unermüdlich die Rede davon ist, in Trainings etwa, es in der Wirklichkeit aber kaum praktiziert wird. Widersprüchlich, ja. Daher lohnt es sich wirklich zu fragen: Warum ist das so?
Dass es sich so verhält, wie du schreibst, ist mir allerdings kein grosses Rätsel.
Darin liegt der Schlüssel zu deinem Problem. Der Wert des aktiven Zuhörens leuchtet unmittelbar ein, wenn man darunter versteht, sich dem Gegenüber ganz und gar zu widmen, seinen Worten zuzuhören, seine Aussagen zunächst urteilsfrei aufzunehmen und zu verstehen versuchen, ohne sie gleich zu bewerten oder nach einem Gegenargument Ausschau zu halten. Aber ein aktiver Zuhörer achtet nicht nur auf die Worte, sondern auch darauf, wie sie ausgesprochen werden, in welchem Ton; er achtet auch auf Gestik und Mimik – und auch darauf, welche Worte nicht gesagt werden, wo Lücken sind.
Aktives Zuhören kann Missverständnisse aus der Welt schaffen, Probleme lösen und überhaupt das Miteinander der Menschen zum Wohle jedes Einzelnen verbessern. Also, was will man mehr?
Es handelt sich dabei nicht um eine Technik oder Methode, die man nur mal kurz kapieren muss und dann anwenden kann. Aktives Zuhören lässt sich nicht in einem Crashkurs lernen – nach dem Motto: „Dieses Wochenendseminar, insgesamt 14 Intensiv-Stunden, macht Sie zum aktiven Zuhörer!“ Auch wenn es solche Seminare tatsächlich gibt.
Das, was so einfach scheint, entpuppt sich also als etwas Komplexes. Das ist auch der Grund, warum einerseits so leicht und oft über aktives Zuhören geredet, es aber so schwerlich und selten angewendet werden kann. So erklärt sich dein Widerspruch. Aber ich sagte eingangs auch, dass dieser Widerspruch bezeichnend für unsere Zeit sei. Was ich damit meine: Zeit ist ein rares Gut geworden.
Aktives Zuhören lässt sich auch nicht einfach eintrichtern. Es ist ein besonderes Vermögen, eine Kompetenz, auf sein Gegenüber eingehen zu können. Es ist eine innere Haltung, tatsächlich verstehen zu wollen, worum es meinem Gesprächspartner geht, ihn in seinen unterschiedlichen „Facetten“ als Mensch zu sehen. Aber man kann sie Schritt für Schritt erlernen. Und der erste Schritt beginnt bei dir selbst.
Zunächst: Zwei Menschen sitzen sich zu einem Gespräch gegenüber. Was ist aktives Zuhören definitiv nicht? Also, es ist nicht Downloaden, nicht das einfache Abspeichern des Gesagten, von Informationen also. Es reicht auch nicht, wenn ich physisch anwesend, mit meinen Gedanken und Gefühlen jedoch sonst wo unterwegs bin. Das aktive Zuhören ist da, wenn auch du ganz da bist. Bei dir und bei dem anderen. Wir sind es einfach nicht mehr gewohnt. Wir gucken zeitgleich auf den Bildschirm des Laptops, schielen aufs Handy, sind mit den Gedanken im Gestern oder Morgen oder beidem, sagen dies, fühlen das, meinen aber noch was ganz anderes und sind davon überzeugt, unserem Gegenüber zuzuhören. Das ist nicht aktives Zuhören – das ist lediglich „Ja,ja …“ sagen und downloaden.
Wenn ich hinhöre, was in meinem Inneren geschieht, kann ich bei mir die Voraussetzung schaffen, mich überhaupt dem Menschen mir gegenüber gänzlich zu widmen. Das Innen des Ichs ist die erste Quelle fürs Umhören. Und es ist erstaunlich, was du da alles erfährst. Vielleicht ist es zunächst nur ein Magenknurren. Gut, das ist auch eine Information für dich, zur Kenntnis genommen, Punkt. Dann hörst du ein Rauschen, und nach und nach bist du Zeuge von Gesprächen, die du selbst mit dir führst: „Wieso sitze ich schon wieder in diesem Meeting, wir reden und reden und nie treffen wir eine Entscheidung … Du musst aber auf jeden Fall hier sein, sonst wird dir nachher vorgeworfen, du hast dich ja nicht eingebracht … Ach, herrje, ich muss noch unbedingt auf die Mail von XY reagieren … Was sagt der denn jetzt, das ist doch überhaupt nicht unser Problem, er lenkt doch wieder ab … Ich habe einfach keine Lust mehr … Jetzt halte durch, es ist ja bald vorüber …“
Das könnte man auch von dir denken, wenn bei dir die Filme liefen, wie es ihnen gerade einfiele. Also, ein Blick nach innen lohnt sich. Dann kannst du dich auch fragen, was die Filme über dich, dein Denken, dein Fühlen, dein Sein in dieser Situation, dein Zuhören aussagen. So näherst du dich langsam dem, was man unter aktivem Zuhören versteht, zumindest hast du schon einmal eine Verbindung zur dir selbst hergestellt, dich nun schon mal in den Fokus genommen. Die andere Perspektive ist dein Gegenüber. Auf den schaust du nun aufmerksamer. Nicht nur auf seine Worte. Du nimmst auch wahr, wie er sich verhält, bewegt, wie er sich fühlt. Ob er aufgeregt ist oder ganz entspannt. Ängstlich oder ärgerlich. Du nimmst auch den Hintergrund mit in deinen Blick, in deine Wahrnehmung:
Die zweite Quelle fürs Umhören ist das, was in der Welt so geredet wird. Das ist natürlich endlos, aber lehrreich. Was früher vielleicht noch als Redseligkeit oder Tratschsucht durchging, kommt mir heute nur noch wie Sprachinkontinenz vor. Es wird dahingeredet, dass einem schwindelig wird. Wenn man hinhört. Aber das tut ja niemand mehr. Deswegen läuft das wohl auch so gut. Zudem die immer gleichen, leeren Worthülsen wie Respekt, Verantwortung, Kundenorientierung, Empowerment etc. Grosse Worte, aber was verbirgt sich dahinter?
Kaum jemand nimmt solche Worte ernst, kaum jemand hinterfragt sie. Das Gebrabbel ist wirklich höchst unerquicklich. Wir stumpfen dadurch ab – und sind damit auch für unser Gegenüber stumpf. Das ist unverzeihlich.
Aber man muss sich auch an die eigene Nase fassen, indem man sich fragt: Was rede ich selbst so den lieben langen Tag daher? Eine einfache Frage. Aber sie schärft den Blick, entlarvt möglicherweise einen porösen Kern. Beispiel: „Also, wir sind uns einig, wir müssen die Leute mehr einbinden …“ Klingt harmlos, aber tatsächlich: Was soll das heissen, wenn wir jemanden einbinden? Wer möchte denn überhaupt eingebunden werden? Und, wenn ja, wie lange und wie fest?
Dem auf die Schliche zu kommen, im eigenen Dahingesagten, das wäre schon was. Und das wäre die dritte Quelle fürs Umhören.
Ja, aktives Zuhören ist eine feine Sache. Jeder, der einmal einen aktiven Zuhörer hatte, wollte keinen anderen mehr. Weil er sich ernst genommen, bestenfalls verstanden fühlt. Damit ist aktives Zuhören bedeutsam, für den einzelnen Menschen, aber gerade auch für das Zusammenleben der Menschen. Ich bezweifle jedoch, dass im modernen Business, wo gelegentlich aktives Zuhören hochgejubelt wird, es in seiner ursprünglichen Zweckfreiheit gemeint ist. Mir schwant vielmehr, dass es entweder missverstanden oder gar missbräuchlich instrumentalisiert wird. Woher sollte im Geschäftsleben auch die Zeit kommen? Woher der Raum für den anderen?
Selbst jenseits der wirtschaftlichen Zwänge liegt Zuhören nicht im Trend. Es geht vielmehr um Eloquenz, die dahingehend verstanden wird, dem Gegenüber gerade so weit zuzuhören, Stichworte nicht zu verpassen, die zur Unterbrechung taugen, mit eigenen Antworten, mit dem eigenen Standpunkt. Es gilt, auf sich aufmerksam zu machen. Indem man möglichst viel Redezeit beansprucht. Redepausen gab’s mal, früher irgendwann.
Wir sind einfach einem permanenten Krach ausgesetzt, der uns daran hindert, uns uns und damit auch anderen zu widmen. Das ist keine Lappalie. Ich würde mich daher freuen, wenn aktives Zuhören als das erkannt würde, was es ist: ein Gut für uns Menschen. Und wenn ich endlich mal wieder meinem Gegenüber im wörtlichsten Sinne glauben könnte, sagt er: „Bin ganz Ohr!“
Besonders in einer so schwierigen Situation, wie wir sie alle derzeit aufgrund von Corona erleben, hätte das einen hohen Wert. Lernen wir, nicht Ratschläge zu geben, sondern zuzuhören, wertfrei hinzuhören und auch umzuhören – vielleicht ist das eine sinnvolle Möglichkeit mit uns selber und anderen – in dieser ereignisreichen Zeit gut verbunden zu sein.
Ich sende dir ganz liebe Grüsse!