ich finde es bewundernswert, wie extrem hilfsbereit du bist und dass du dich so unglaublich für andere Menschen einsetzt. Dein Umfeld kann sich über einen Papa, Ehemann, Freund, Kollegen und Nachbarn wie dich glücklich schätzen, der in diesem Maße umsichtig und hilfsbereit ist. Doch wie du in deiner sehr selbstkritischen E-Mail schreibst: Deine herzensgute Art hat auch ihre Schattenseiten. Einige Menschen nutzen dich aus – schließlich wissen sie ja, dass Hannes immer zur Stelle ist. Für andere ist es selbstverständlich geworden, dass du in die Bresche springst. Anerkennung? Fehlanzeige. Und du selbst gelangst immer wieder ans Ende deiner Kräfte – denn nicht zu helfen, ist für dich keine Option.
Ich möchte dir deshalb gerne nahelegen, zu fasten.
Wenn ich jetzt nur dein Gesicht sehen könnte. Du bist vermutlich irritiert. Damit meine ich natürlich nicht, dass du auf Lebensmittel verzichten sollst. Versuch doch mal, ein paar Wochen lang deiner Hilfsbereitschaft zu entsagen, um deine Situation zu verbessern und wieder Erfüllung darin zu spüren.
In unserem Kulturkreis wird das Fasten meist auf den Körper beschränkt. Aus dem Christentum kennen wir vor allem die vierzig Tage Nahrungsverzicht. Meine Freundin verzichtet zum Beispiel auf Süßes, einer meiner Kunden lässt gerade den Kaffee im Schrank stehen, andere wiederum nehmen Abstand vom Alkohol …
In dieser Zeit des selbst auferlegten Verzichts geht es den Menschen unabhängig von der Religion darum, Selbstdisziplin zu üben, etwas für die Gesundheit zu tun und auf bestimmte Gewohnheiten zu verzichten beziehungsweise ausufernde Essgewohnheiten wieder in geordnete Bahnen zu führen.
Das halte ich für eine ausgesprochen gute Sache. Auch ich mache in jedem Quartal eine siebentägige Saftkur. Das ist ein Reset für meinen Körper. Denn er lernt wieder, was gut für ihn ist. Danach habe ich meist einen Bärenappetit auf Obst und Gemüse und der erste Latte macchiato danach … was für eine Sinnesfreude, welch ein Genuss!
Lieber Hannes, genau diesen Genuss kannst du wieder verspüren, wenn du anderen hilfsbereit beiseite stehst – und zwar indem du dir erst einmal eine Zeit der Abstinenz verordnest.
Ich sage bewusst „gönnen“. Erlaube dir zu reflektieren, aus welchen Denk- und Haltungsgewohnheiten heraus du bisher gehandelt hast. Finde heraus, warum es für dich so wichtig ist, dass es deinem Umfeld gut geht. Beobachte, welche Verhaltensweisen dir guttun und welche diese Unzufriedenheit auslösen, die du momentan verspürst. Erlebe, welche wertvollen neuen Verhaltensweisen du plötzlich an den Tag legst.
Und das wirst du ganz unweigerlich. Schließlich wirst du in deiner Gewohnheitsfastenzeit ziemlich oft „nein“ sagen müssen. Du wirst damit umgehen lernen müssen, dass dir der kalte Hauch des Grauens ins Gesicht weht, wenn du nicht mehr hilfsbereit bist. Durch dieses neue Verhalten wirst du vor der Herausforderung stehen, unbekannte Gefühle zu ertragen, die bei dir hochkommen. Doch diese Zeit des Verzichts lohnt sich! Ungemein! Denn:
Die Zeit, in der du nicht hilfsbereit bist, gibt dir viel Raum für Selbstreflexion und Achtsamkeit. Du entdeckst, was noch alles in dir steckt – und das bereitet unheimlich viel Spaß. Du wirst dich ganz neu kennenlernen und kannst dann umso bewusster entscheiden, welche Verhaltensweise du aufgeben willst und welche nicht, bei welchen Menschen in welchen Situationen du wirklich helfen willst und bei welchen nicht. So findest du die Balance, dir dir entspricht. Weil sie genau das ist, was du willst. Weil sie dir Erfüllung bringt.
Es geht auch darum, die Dinge zu entdecken, die dir selbst guttun und deine Befindlichkeit verbessern und damit möglicherweise den Bedarf nach Hilfeleistung für andere verringern. Fasten zu mehr Autonomie senkt das Hungergefühl vielleicht auch bei anderen!
Wenn du hilfsbereit bist, ist es letztlich wie beim Schokoladeessen: Wenn ich mich ausschließlich von Schoki ernähre, führt die einseitige Ernährung zu einem Mangelzustand. Wenn ich einseitige innere Haltungen und Verhaltensweisen habe, ebenso. Wenn ich das richtige Maß für mich und meinen Körper gefunden habe, ist Schokolade ein Genuss. Und du kannst mir glauben: Ich liebe Schokolade und würde niemals (!) ganz darauf verzichten.
Lieber Hannes, du musst auch nicht darauf verzichten, hilfsbereit zu sein – aber ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du für dich das passende Maß findest. So dass du dein Umfeld weiterhin unterstützen kannst, aber auch genug Zeit und Energie für dich übrig behältst.