du wirst sicher schon gemerkt haben, dass diese wahrhaftige Selfie-Manie nicht erst seit gestern herrscht. Sie nimmt seit einigen Jahren immer mehr zu – im Urlaub, bei Hotspots, in Fußgängerzonen, in Parks, mit Eis, mit Sonnenbrille, mit Hut. Der wichtigste Blick ist der in die Kamera und dann ins Handy. Ich kann sehr gut verstehen, dass du dich fragst: Was soll das – dein Leben als Selfie-Doku?
Auf der Straße stolpere ich wie du, liebe Theresa, auf Schritt und Tritt über Leute, die nichts mehr um sich herum mitbekommen, weil sie Selfies machen. Unter uns:
Die Menschen zupfen endlos an sich herum – das nenne ich das Victoria-Beckham-Syndrom. Doch welcher Wunsch führt zu diesem Verhalten? Auf der einen Seite spielt sicherlich das Aufhalten des Alterns eine wichtige Rolle. Wir halten uns in einem bestimmten Alter fest und wollen damit der Endlichkeit entgehen. In der gleichen Tonlage ist auch eine bestimmte Form der Selbstverliebtheit nicht zu unterschätzen: Wir sind so sehr in unser äußeres Selbst verliebt, dass wir unsere eigene Bewunderung brauchen und die Bilder an unsere Freunde schicken, damit sie uns bewundern.
Doch der erschreckendste Aspekt ist in meinen Augen, dass die wahrhaftige Selfie-Manie ein Ausdruck dafür ist, dass wir uns selbst nicht mehr wahrnehmen und ein Selfie der Versuch ist, noch mit uns selbst in Beziehung zu stehen: „Ah, das bin also ich!“ Aber welche Form von Ich siehst du denn darin? Doch bloß das posende, perfekt hingezupfte. Wir werden im Leben nicht mehr gesehen und wahrgenommen als Menschen. Wir sind Funktionsträger und Erfüllungsgehilfen, werden in der Fußgängerzone überrannt. Also geben wir uns selbst die Aufmerksamkeit, die wir von außen nicht mehr erfahren.
Du machst deine Selfies sicherlich auch oft vor Attraktionen. Aber geht es dabei wirklich um den Eiffelturm, Big Ben oder den Kölner Dom? Ich glaube, es geht eher um Beweise: „Hier ist es cool und ich war auch da!“ Wenn du dich mal in der Welt umschaust und sie wirklich wahrnimmst, wirst du schnell feststellen: Andere Kulturen haben ein ganz anderes Verhältnis zum Foto. Vor etwa 30 Jahren war ich zum ersten Mal in Thailand und dort war es überhaupt nicht möglich, Menschen ohne Erlaubnis zu fotografieren. Da mich dies doch sehr wunderte, fragte ich, warum das so sei. Die Haltung, die damals noch in der Bevölkerung überwog: Durchs Fotografieren wird die Seele gestohlen. Damals verstand ich das nicht – was hat ein Foto mit der Seele zu tun? Heute denke ich: Sie hatten recht.
Fotos setzen den Fokus darauf, wie ich aussehen muss, wie der neueste Trend ist, wie ich der Norm entspreche. Oder schlimmer noch: Wie werde ich bewundert? Wir sind in der Gesellschaft nur noch auf unser Äußeres reduziert – und mit Selfies machen wir diese Reduktion uns selbst gegenüber auch noch mit. Wir halten den Kopf so und tragen die Brille so, dass es auf andere möglichst cool wirkt. Der Blick geht also nur noch durch den Blick der anderen – wie sehen die mich? So gesehen nehmen diese Fotos uns wirklich die Seele, denn wir entfernen uns immer weiter von uns selbst.
Der Seele und dem Selbst Raum zu geben und sie nicht der Illusion des Fotofilters auszusetzen. Auch die Ecken und Schatten und Falten anschauen, die sich da bilden. Welche Erinnerungen sind denn da abgespeichert, welche Reaktionen und Aktionen finden da statt?
Liebe Theresa, ich wünsche dir, dass du dich auf diese Weise selbst wieder wahrzunehmen lernst und dich erst dann in Verbindung zur Welt setzt.