da musste ich jetzt aber wirklich mehrere Male tief durchatmen und deinen Brief dreimal lesen. Ich traute meinen Augen kaum, als ich deine Schilderung eurer Kick-off-Veranstaltung zum Change-Prozess gelesen habe. Dass sich ein Manager doch tatsächlich vor die versammelte Mannschaft stellt und verkündet: „Die Mitarbeiter Jahrgang 1980 und jünger sich sind unsere Zukunft! Wir setzen auf euch! Auf euch baut das Unternehmen!“ … Unglaublich.
Ich kann nur zu gut verstehen, dass dir da die Kinnlade herunterfiel. Am liebsten würde ich ihm jetzt direkt selbst schreiben und ihn fragen: Wofür war dieser Kick-off denn jetzt gedacht? Damit eure Mitarbeiter in den inneren Widerstand gehen? Oder in die Betroffenheit? Oder in die innere Kündigung? Und was wird aus den älteren Mitarbeitern? Und der ach-so-beliebten Diversity? Mir fallen zu diesem Manager und seiner Keynote zunächst nur drei Worte ein: respektlos, borniert, desinteressiert.
Insofern bin ich umso froher, dass du dich mit deinem Brief an mich gewendet hast. Kein Wunder, dass dich diese Aussage verunsichert hat, wie du als Führungskraft nun deine Mitarbeiter für die anstehenden Veränderungen motivieren sollst. Und um deine Frage gleich und sehr direkt zu beantworten: Nein, bitte führe den Prozess nicht im Sinne dieses Managers fort! Versteh mich nicht falsch, ich werde mich nicht in eure Unternehmenswerte oder -kultur einmischen. Aber ich wünsche mir von dir, dass du im Interesse deines Teams die Situation meisterst.
In meinen Augen hat besagter Manager sicherlich 60 Prozent aller Anwesenden eine echte Ohrfeige verpasst. Dass er noch dazu selbst 35 Jahre alt ist und damit – nach eigener Auslegung – auch nur noch drei bis vier gute Arbeitsjahre als Unternehmensstütze haben dürfte, das sei nunmal dahingestellt. Aber ich frage mich in solchen Momenten wirklich:
Ich würde mir wünschen, dass sich Führungskräfte – und damit möchte ich ihn und auch dich einschließen – fragen, wo sie eigentlich in ihrer Rolle stehen. Denn in einer – zugegeben nicht ganz leichten – Situation wie bei einer Kick-off-Veranstaltung als bloßer Klopf-O-Mat aufzutreten, der eine Plattitüde nach der anderen verkündet, und zu glauben, danach den Ritterschlag für erbrachte Leistung zu verdienen – also, ich bitte dich, lieber Gottfried, darüber müssen wir wohl kaum diskutieren. Wenn er mit seinen Worten erreichen wollte, dass die Belegschaft in Widerstand geht, dann kann ich ihm nur gratulieren: Alles richtig gemacht!
Wenn du stattdessen einen positiv wirkungsvolle Führungskraft sein möchtest, dann kann ich dir nur empfehlen: Mach den Perspektivenwechsel. Versetze dich in deine Mitarbeiter, reflektiere, was deine Worte über deine Haltung aussagen, was Denken und Führung für dich bedeutet – und lebe dies vor. Im Gegensatz zum Manager, dessen Job es offensichtlich war, die Leute zuzulabern, geht eine wirkliche Führungskraft in Kontakt. Und macht sich Gedanken: Was will ich erreichen? Wie binde ich meine Mitarbeiter wirklich ein?
Lieber Gottfried, ich würde mich wirklich freuen, wenn du dich für Letzteres entscheidest. Wenn du den Mut hast, bei deinen Mitarbeitern die kritischen Themen, die Emotionen anzusprechen.
Wenn du jetzt nach dieser verkorksten Kick-off-Veranstaltung auf die zugehst und sagst: „Ja, ich kann völlig nachvollziehen, wenn ihr denkt: ‚Was fällt denen jetzt schon wieder ein? Was passiert als nächstes? Warum habe ich meine Lebenszeit ins Unternehmen gesteckt, um jetzt nicht anerkannt zu werden?’ All das sind völlig gesunde Reaktionen – und ich freue mich, wenn wir darüber ins Gespräch kommen.“
Ich wünsche dir auf diesem Weg viel Kraft und bin mir sicher, dass du deine Mitarbeiter so weiterhin auf deiner Seite haben wirst. Dass es euch gelingt auf all dem Guten, was die Mitarbeiter in den Jahren geschaffen haben, nun den nächsten weiteren guten Schritt zu gehen. Er ist nur möglich, weil alle Mitarbeiter und Führungskräfte – auch die, die einen früheren Jahrgang haben – ihre Leistung, ihr Ideen, ihre Beiträge eingebracht haben.