verzeih meine Skepsis, aber als „fortschrittlich“ empfinde ich es nicht, dass dein Unternehmen sämtliche Mitarbeitergespräche abgeschafft hat. Ich weiß, sie kosten unglaublich viel Zeit und Mühe. Und ja, Führungskräfte haben einen vollen Terminkalender. Aber ich möchte offen mit dir sein: Wenn du diese Situation als Ausrede nutzt, um Mitarbeitergespräche unter den Teppich zu kehren, dann hast du deinen Beruf verfehlt. Und sie bisher in keiner Weise zieldienlich genutzt – sondern als pure Administrationsarbeit „abgestempelt“, als Vergabe von Noten für die Vergangenheit, ein hohles Ritual, das einmal im Jahr gemacht wird.
Auch wenn es sich manchmal so anfühlt und Mitarbeitergespräche in vielen Unternehmen genau dazu gemacht wurden – ein rein formales Ritual. Schließlich kommen die Mitarbeitergespräche alljährlich angerollt wie ein schwerfälliger Zug, der euch wieder einmal zu überrollen droht. So viel vorzubereiten, solch ein administrativer Aufwand! Und am Ende sind die Mitarbeiter ja doch nur frustriert.
Doch den Ansatz, unter dem Deckmantel der „Work 4.0“ und der „Eigenverantwortung“ deshalb gleich alle Mitarbeitergespräche aufzugeben, finde ich nicht richtig und sogar kontraproduktiv. Denn dadurch entsteht ein neues, kaum besseres Bild: Der Zug der Mitarbeitergespräche überrollt dein Unternehmen nicht länger, dafür stehen Mitarbeiter und Führungskräfte ratlos am Gleis und warten vergeblich auf Orientierung und Ausrichtung. Denn die Unternehmen, die ohne Mitarbeitergespräche auskommen wollen, vergessen darüber meist einen wichtigen Aspekt:
Und genau da landest du mit deinem Team, wenn ihr auf Mitarbeitergespräche verzichtet. Die Leute in deiner Mannschaft, die sich einbringen und Engagement zeigen, erfahren keine Unterscheidung mehr zu ihren Kollegen, die nichts tun oder nichts Großes erreichen wollen. Folglich wird die Mindestleistung und die „ich will mich nicht entwickeln“ zum neuen Standardverhalten. Entweder werden die Leistungsträger sich diesem neuen Standard anpassen oder die Organisation verlassen.
Ich kann verstehen, dass viele Unternehmen dennoch versucht sind, sich die Mitarbeitergespräche zu sparen. Lieber ein paar „verwirrte und zufriedene“ Mitarbeiter am Gleis als mehrere, die vom harten Zug der Mitarbeitergespräche überrollt werden, nicht wahr? Denn welche Mitarbeiter sind denn frustriert durch die Gespräche? Ich habe noch nie gehört, dass ein Mitarbeiter, der innovativ, beweglich und leidenschaftlich seinen Beitrag bringt, der Spaß daran hat seine Fähigkeiten zu erweitern und dem dies auch im Mitarbeitergespräch und der Leistungsbeurteilung widergespiegelt wurde, frustriert war. Es sind vielmehr diejenigen, die in Selbstbild und Fremdbild eine Divergenz erfahren, die Ihre Leistungen nicht erbracht haben, die Vereinbarungen und Zeitleisten nicht einhalten. Dabei geht es nicht einmal mehr darum: Harmonie ist wichtiger als Wirkung und Leistung …
Und der sollte lange vor dem Wunsch nach Harmonie stehen. Deshalb bitte ich dich: Denk darüber nach, was dein Unternehmen, was dein Team erreichen will. Dann kannst du nämlich den langsamen, klapprigen, administrativen verblödeten Zug der Mitarbeitergespräche sinnvoll unter die Lupe nehmen. Dann kannst du erkennen, dass niemandem geholfen ist, wenn ihr ihn einfach auf dem Abstellgleis parkt. Und dann könnt ihr auch gemeinsam dafür sorgen, dass aus dem altbackenen Zug ein glänzender und sinnvoller ICE wird.
Denn Mitarbeitergespräche werden absolut sinnvoll, wenn ihr darin über die Ausrichtung und die Ziele eures Unternehmens, aber auch jedes einzelnen Mitarbeiters und des Teams sprecht. Gerade in einer Zeit enormer Veränderungen und Transformationsprozesse und damit entstehender Unsicherheit braucht es Vorgehensweisen. Und diese gilt es gemeinsam zweckdienlich zu gestalten. Was versteht ihr eigentlich unter Work 4.0? Oder unter Digitalisierung? Welches Verhalten und Handeln, welches Denken und welche Einstellungen sind jetzt wertvoll? Und was kann jeder Einzelne persönlich dazu beitragen? Wie setzt ihr diese Ideen im Team um?
Mitarbeitergespräche sind kostbar, wenn du sie als sinnvolles Miteinander und Grundlage für gemeinsame Entwicklung gestaltest. Du kannst sie als sinnvolle Struktur konzipieren, in der Selbstverantwortung, Agilität, Unternehmertum, etc. erst möglich sind.
Deshalb wünsche ich dir Mut. Den Mut, leere Worthülsen zu verbannen, Leistungsträger deutlich anzuerkennen und zu loben, und Mitarbeitergespräche wieder als den wichtigen Kommunikations- und Entwicklungsraum aufleben zu lassen, der sie sind.