vielen Dank für deinen Brief. Was du mir da berichtest, kann ich genauso bestätigen. Leider! In vielen Unternehmen schmunzeln die Mitarbeiter nur noch, wenn die Sprache auf „moderne“ Theorien zur Arbeitswelt kommt. Sie haben längst die Erfahrung gemacht, dass sich bei ihnen im Haus trotz aller schönen Reden an der Art der Führung nichts ändert.
Ihre Frustration wundert mich nicht, denn wenn ich mir die internen Diskussionen zum Thema Führungsarbeit so anhöre, klingen diese für mich wie Requiems. Jeder weiß, was verändert werden müsste, doch in der Realität geschieht nur eines:
Aus der Fülle der Beispiele, die ich dir dazu aufführen könnte, will ich fünf herausgreifen. Vielleicht kennst du das ein oder andere auch aus deinem Unternehmen:
Erstes Beispiel: Seit Jahren ist bekannt, dass ein guter Fachexperte nicht unbedingt eine gute Führungskraft ist. Doch wer wird nach wie vor sehr gerne in Führungspositionen befördert?
Beispiel Numero zwei: Allen ist klar, dass gute Führungsarbeit Zeit braucht. Doch von wie vielen Führungskräften wird erwartet, dass sie diesen Bereich on top zu ihren sonstigen Aufgaben erledigen?
Nummer drei der Beispiele: Wenn Führung mit Karriere gleichgesetzt wird, drängen auch jene Mitarbeiter danach, die weder Führungsarbeit spannend finden noch die Begabung dafür haben. Sag’ ehrlich:
Viertes Beispiel: Die Fortentwicklung von Unternehmen lebt von unangepassten Führungskräften, die sich trauen, ihren Vorgesetzten zu widersprechen und eigene Ideen einzubringen. Doch wer wird im Zweifelsfall bevorzugt?
Und – last but not least – das fünfte Beispiel: Jedem ist bewusst, dass Sichtbarkeit von Führung nichts mit Effekthascherei zu tun hat. Schau dich um: Wie anders würdest du das bezeichnen, was viele Führungskräfte heute tun?
Weißt du, was mir noch auffällt? Der Abgesang auf die eigentlich notwendigen Veränderungen wird von einem weiteren Lied begleitet.
In vielen Fällen unterstützt und ergänzt der Einsatz von Methoden die Führungsarbeit nicht mehr, sondern ersetzt sie. Wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm so greift, wer mit seiner Führungsarbeit Probleme hat, nach solchen Hilfsmitteln.
Gerne liefere ich dir auch dafür ein Beispiel: Sicher kennst du das viel gepriesene 360-Grad-Feedback. Wenn du dieses Instrument weiterdenkst, musst du zu dem Schluss kommen: Das Ziel von dir als Führungskraft muss es sein, von allen gute „Noten“ zu bekommen – dann hast du es geschafft!
Das heißt: Du darfst auf keinen Fall deine Nicht-Leister über Rückmeldungen und im Handeln konsequent führen, denn diese werden das nicht gut finden. Du darfst auf keinen Fall deine Mitarbeiter ernsthaft fordern, sei es in Aufgaben, Zielen oder Veränderung – die Betroffenen könnte sich unter Druck gesetzt fühlen. Du darfst auch auf keinen Fall einen erforderlichen Konflikt mit deinen Kollegen eingehen, um eine Innovation zu ermöglichen, denn Konflikte sorgen für schlechte Stimmung. Und du darfst natürlich auf keinen Fall deinen eigenen Vorgesetzten auffordern, beispielsweise seine Verantwortung wahrzunehmen oder wichtige Entscheidungen zu treffen.
Zusammengefasst: Um im 360-Grad-Feedback ein gutes Ergebnis zu erzielen, muss dein Ziel sein, alle möglichst in Ruhe zu lassen, damit dich alle mögen. Und das soll dann Führung sein?
Lieber Udo, ich gebe dir sehr recht, wenn du anmahnst, dass die Führungsarbeit in unseren Unternehmen einen anderen Stellenwert bekommen muss.
Das gilt sowohl für das Recruiting als auch für die Entwicklung von Führungskräften. Und nicht zuletzt für den Mut, die Tabufrage schlechthin zu stellen: Wer ist nicht für die Führungsarbeit geeignet oder will sie gar nicht machen?
Ich höre nämlich Requiems zumindest im Unternehmenskontext nicht so gerne. Und du?