unser Gespräch nach dem Online-Kurs hat mich inspiriert. Ich musste zwar dann „rauszoomen“, weil ich noch eine andere Verabredung hatte, aber noch am Abend habe ich mich hingesetzt und ein paar Gedanken über Worthülsen aufgeschrieben.
Wir hatten es ja von „Change“ – und wie inflationär der Begriff mittlerweile benutzt wird und echter Transformation eigentlich im Weg steht. Und auch wenn „Change“ ganz klar auf einem vorderen Platz meiner persönlichen Top 50 der sprachlichen Inkontinenz ist: Was mir derzeit wirklich an die Nieren geht, sind andere Worthülsen, die letzter Zeit – verzeiht mir den Kalauer – viral gehen.
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich einen Blog über das Hinhören und die Bedeutung von Zuhören geschrieben. Da dauert es nicht lange und ich bekam eine unendliche Fülle an Beispielen „geschenkt“. Eine große Bandbreite an sprachlicher Inkontinenz in kurzem Zeitraum. Besondere Ereignisse bringen eben auch immer die Probleme, die sowieso schon da sind, deutlicher nach aussen – sie werden sichtbarer, in den letzten Wochen für mich vor allem hörbarer. Und das lässt mich nicht kalt. Ganz und gar nicht.
Denn immer deutlicher wird, wie häufig sinnvolle und für uns als Menschen wichtige Werte zu Worthülsen degradiert werden. Was da nicht alles auf mich, auf euch, auf uns alle als Ausdruck völliger Wirrheit, Oberflächlichkeit und Verständnislosigkeit von Sinn und Konsequenz des Gesagten losgelassen wird …
Meine zwei aktuellen Spitzenreiter der sprachlichen Widersinnigkeiten sind folgende:
Mit diesem Begriff wird um sich geworfen, wie mit bunten Kamellen. Jetzt müssen wir also solidarisch sein! Solidarisch hier, solidarisch dort … Okay, aber was heisst das denn bitte genau? Und vor allem: Muss mir gesagt werden – und zwar deutlich –, dass ich jetzt solidarisch sein soll?
Etwas für einen Menschen zu tun, ohne Absicht – nur weil es mir von Herzen wichtig ist, auch ein Akt gelebten Mitgefühls, das meint Solidarität.
Und dann höre ich: Wir müssen solidarisch sein. Wie bitte ich muss? Da gab es Formulierungen wie: Wir haben eine „Verpflichtung zur Solidarität“ – da bleibt mir fast die Luft weg.
Denn so wird ein kostbarer Wert und eine wunderschöne Haltung missbraucht. Hilfsbereitschaft ist eine freiwillige, mitfühlende Handlung – ganz weit weg von Verpflichtung.
Und überhaupt: Wem gegenüber muss ich denn jetzt solidarisch sein? Der Menschheit an sich gegenüber? Den jüngeren oder den älteren Menschen in unserer Gesellschaft? Menschen anderer Nationen gegenüber? Dem Weltfrieden im allgemeinen – oder irgendwie am besten halt allen gegenüber? Was wird hier gefordert?
Ach so, und gibt es auch eine Form der Solidarität mir selbst gegenüber? Ach nein, das geht nicht: Das ist ja dann Egoismus …
Ja. Degradiert. Und somit bin ich vehement für die ehrliche Klärung der Begriffe, denn sonst gehen schöne Worte verloren – und damit schöne Gedanken und schöne Handlungen.
Ohne Freiwilligkeit keine Solidarität. Also ist das, was aktuell unter dem Banner dieses schönen Wortes gefordert ist, keine Solidarität. Das, was gefordert ist – ist eben eine Forderung, dann soll man sie doch bitte so benennen und nicht eine Pseudo-Moral kreieren. Das trifft übrigens auch auf den sogenannten „Solidaritätszuschlag“ zu. Das ist eine klare Abgabe, ein Zwang – und das kann auch endlich so gesagt werden, anstatt einen unfassbar schönen Wert dafür zu missbrauchen.
Womit wir uns Platz 2 der ärgerlichen und auch gefährlichen Worthülsen nähern:
Als dieser Begriff im Karussell der sprachlichen Widersinnigkeiten seinen Platz eingenommen hat, wurde mir schwindlig – bis nahezu zum Erbrechen. Denn was ist hier gemeint?
Soziale Distanz als Isolation? Soziale Distanz als asoziales Verhalten? Soziale Distanz als Abgrenzung zu anderen? Soziale Distanz als das Ende der menschlichen Verbundenheit?
Diese „soziale Distanz“ ist so ziemlich das Letzte, was die meisten Menschen wollen und brauchen. Erst recht nicht in schwierigen Phasen.
Das Erleben von Zugehörigkeit, Nähe, ist eine Grundlage für mentale Stabilität, für das Erleben von Sicherheit und Glück und sicher auch eine gute Zugabe für die Gesundheit, weil es das Immunsystem stärkt.
Denn das, um was es wirklich geht, ist einzig und allein die physische Distanz! Das ist gemeint und sinnvoll. Wir können sehr wohl in physischer Distanz und gleichzeitig sozial eingebunden sein. Wir können sehr wohl physische Distanz wahren, ohne Verbundenheit, Nähe, Gemeinsamkeit aufzugeben.
Alle, die schon einmal hunderte von Kilometern von ihrem Partner, ihrer Partnerin, von Freunden, ihren Lieben getrennt waren, wissen: Das ist möglich.
Also können wir bitte die Dinge konkret benennen, statt so eine Inkontinenz in die Welt zu setzen und dann auch noch im Fluss zu halten?
Und deswegen ist Sprachinkontinenz nicht nur lästig, sondern ein wirkliches Problem:
Wenn die einen im Unternehmen von „Change“ reden, die anderen damit aber keine wirkliche Bedeutung mehr verbinden, hat das Unternehmen, das der Sache nach „Change“ bräuchte, ein Problem.
Wenn von „Social Distance“ die Rede ist und vielleicht damit wirklich nur „Räumliche Distanz“ gemeint ist, dann haben wir alle ein Problem, weil in der Rede von „Social Distance“ eben immer Isolierung und Abgrenzung mitschwingt. Und diese Schwingung wirkt immer nach. Sie sickert durch.
Die Lage ist heikel. Differenzierung wird immer schwieriger. Gedanken und Menschen werden immer schneller schubladisiert. Immer mehr werden Gedanken in zwei Schubladen gesteckt – dafür oder dagegen –, und damit findet eine immense Abwertung statt. Von Möglichkeiten. Der Unterschiede von uns Menschen. Und deswegen möchte ich deutlich betonen: Dieser Blog ist in keinster Weise politisch zu interpretieren!
Für mich geht es um die Bedeutung von Sprechen und Zuhören. Achtsamkeit, hier wie dort, das bringt uns weiter.
Weniger Sprachinkontinenz ist möglich. Dafür muss nur jeder für sich achtsamer mit seinen Worten umgehen. Vielleicht erst einmal eine Sache selbst durchdenken. Eine innere Haltung dazu erschaffen. Lernen, Absicht und Wirkung bei unserer Benutzung von Sprache zu durchzudenken. Hinter die Worthülsen blicken und sich sich seine eigenen Gedanken dazu zu machen.
Und so bedanke ich mich für die zahlreichen Beispiele sprachlicher Nutzung im Zusammenhang mit den Ereignissen der letzten Wochen. Sie haben mir sehr geholfen, bei vielen Themen und Werten noch deutlicher auf die Reise nach meiner Haltung und meines Verhaltens zu gehen. Mir wurde noch bewusster, was Sprache für eine elementare Energie sein kann – für die Bildung von persönlichen Gedanken, für das Suchen und Finden von innerer Klärung und besonders in der Verbundenheit mit Menschen.
Was denkt Ihr? Ich freue mich schon, Katrin und Gerd, auf unsere nächste Verabredung. Vielleicht noch in räumlicher Distanz, aber gedanklich nah.
Liebe Grüsse und bis bald,
1 Comment
Liebe Antje,
es ist bemerkenswert wie Du immer wieder wichtige Themen aufgreiftst und auf Deine besondere Art, in schön verständlichen Text aufbereitest. Ich spüre jedesmal mit welcher Hingabe Du schreibst.
Es ist wirklich schade, dass heutzutagedie die Dinge und Situationen nicht beim Namen genannt werden.
Mir scheint es auch so das der Fokus auf eine zwischen den Zeilen versteckte Botschaft gelegt wird. Mit vielen Fach- und Fremdwörter, überwiegend in Englisch, wo die Definition bzw. die Übersetzung für den Leser viel Interpretationsspielraum lässt und das wichtigste, es muss akademisch rüber kommen.
Ich finde auch das der Missbrauch von Werten, wie Du es in Deinem Text beschreiben hast, leider gesellschaftsfähig geworden ist.
Ich Danke Dir für Deinen Beitrag, der wie immer sehr informativ ist und zum nachdenken anregen.
Viele herzliche Grüße
Jesus